Memento



Auto-Marketing (Selbstvermarktung)


Handel – Marketing – Handelsmarketing   -   It’s all the same?



An den deutschsprachigen Hochschulen gibt es derzeit nur noch wenige "reine" Lehrstühle für Handelsbetriebslehre, aber über 100 Marketing-Lehrstühle. Die Handelsbetriebslehre als älteste wirtschaftswissenschaftliche Disziplin – Jacques Savarys Le parfait commerciant aus dem Jahre 1675 sei als Markstein genannt – wurde von der industriell geprägten Marketing-Lehre weitgehend verdrängt. Den Gründen des Selbstvermarktungserfolgs ist nicht nachzugehen. Etwas sei aber auch nicht vergessen:


  • Der eigentliche Lorbeer für das Vordringen des Marketing in Deutschland gebührt nicht Wissenschaftlern, sondern einem Fachjournalisten: Herbert Gross, der seit Anfang der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts im Industriekurier/Handelsblatt und in den von ihm herausgegebenen Blättern der Wirtschaftspolitischen Gesellschaft von 1948 unermüdlich für die "neue" US-amerikanische Disziplin geworben hat. (Dass deutsche Wurzeln des Marketing in die sog. Nürnberger Schule der Absatzwirtschaft der 30er Jahre reichen, wurde und wird indes kaum beachtet).

  • Das 2002 bereits in 19. Auflage aufgelegte Standardlehrwerk "Marketing" von Robert Nieschlag/Erwin Dichtl/Hans Hörschgen erhielt diesen bahnbrechenden Titel erst mit der 3. Auflage (Berlin 1970). Der zutreffende Titel der ersten beiden Auflagen seit 1968 lautet "Einführung in die Lehre von der Absatzwirtschaft". In der Folgezeit wurden andere “Absatz”-Buch- und Zeitschriftentitel in “Marketing”-Titel geändert.

  • Von Rudolf Seyfferts Vision einer angemessenen akademischen Verankerung der Handelsfragen in Forschung und Lehre (1951) ist die gegenwärtige Hochschullandschaft weiter entfernt denn je: "Hier müßte an jeder Hochschule, die die Wirtschaftswissenschaft pflegt, wenigstens ein Lehrstuhl vorhanden sein, der die Handelsfragen ausreichend mitvertritt. Wünschenswert wäre, dass die besondere Sorge um die Handelsprobleme an zwei Lehrstühle angeschlossen würde, von denen der eine mehr betriebswirtschaftlich, der andere mehr volkswirtschaftlich-wirtschaftspolitisch zu besetzen wäre." (Rudolf Seyffert: Wirtschaftslehre des Handels, 5. Aufl., Opladen 1972, S. 742f.)

Heute werden Handelsfragen zwar von den meisten Marketinglehrstühlen mitvertreten. Aber sowohl sachlogische Zusammenhänge als auch Rückmeldungen aus der Unternehmenspraxis lassen das Vereinbarkeitsproblem in der Lehre erkennen: Im Marketing (im Kern industrielle Absatzlehre für Konsumgüter) sind Techniken zu vermitteln, wie bei überbordendem Konsumgüterangebot die Waren in die Handelssortimente “hineingedrückt” oder “hineingezogen” werden (Push-and-pull-Methoden). Gleichzeitig müss(t)en den Handelsunternehmen völlig konträre Techniken vermittelt werden: wie, wann und anhand welcher Kriterien die Waren aus dem Sortiment ausgeschlossen, ausgesondert oder ausgelistet werden! Als Reaktion auf das lawinenartig vordringende Marketing und um dem Vereinbarkeitsproblem aus dem Weg zu gehen, versucht ein eigenständiges Handelsmarketing, die Marketing-Techniken zu modifizieren und auf die systematische Erforschung und Gestaltung aller vier Märkte von Handelsunternehmen (Absatz-, Beschaffungs-, Konkurrenz- und interne Märkte) auszuweiten - ein Paradigmenwechsel: Im Marketing sind Handelsunternehmen Objekte industrieller Marketingkonzepte, im Handelsmarketing sind sie Subjekte eigenständiger Marketingkonzepte. Übrigens wurde mein Konzept des 4-Märkte-Ansatzes von zahlreichen Autoren übernommen. So gliedert z.B. der ehemalige "Handelspapst" Bruno Tietz in seiner Monographie "Marktbearbeitung Morgen. Neue Konzepte und ihre Durchsetzung" den Datenrahmen des Unternehmens in Kundenpolitik, Lieferantenpolitik, Konkurrentenpolitik und Partnerpolitik.

Ein Trost bleibt: 


Handelsunternehmen sind schon seit Jahrhunderten erfolgreich gewesen, 
ohne die Begriffe "Marketing" oder "Handelsmarketing" zu kennen...


 

... wurde doch kaufmännisches Wissen schon im Mittelalter eifrig gelehrt.

 


















Quelle: Brockhaus - Die Bibliothek / Kunst und Kultur, Bd. 3. Herrscher und Heilige, Leipzig-Mannheim 1997, S. 453.


 

Beliebigkeits-Marketing?

 

In seiner Studie “Gruppengütermarketing” teilt Markus Voeth mit, dass eine Analyse der Amazon-Bücherlisten zum Stichwort “Marketing” nicht weniger als 108 “Marketingperspektiven” ergeben habe, von “Absatzmarketing” bis “Zuliefermarketing”. Indes dürfte sein eigenes neues Stichwort nicht die 109. “Marketingsperspektive” sein, wenn man an die unendliche Geschichte der (bei Amazon nicht auftauchenden) “Bindestrich-Marketing”-Konzepte denkt: “Fraktales Marketing”, “Guerilla-Marketing”, “Reverse Marketing”, "Stomach-Marketing" usw. usw. Eine Verdreifachung der “Marketingpserspektiven” dürfte sich ohne weiteres nachweisen lassen. In fast jedem anspruchsvolleren Marketing-Aufsatz - und dazu zählt auch der Aufsatz über Chancen des Mobile Marketing im Rahmen von Multichannel-Strategien” von D. Möhlenbruch und U.-M. Schmieder in Thexis 2/2002, S. 27-33 - tauchen heutzutage gleich mehrere “Marketingperspektiven” auf; in dem genannten Aufsatz auf nur sieben Seiten immerhin sechs: “Direkt-Marketing”, “Mobile Marketing”, “Multichannel-Marketing”, “One-to-One-Marketing”, “Permission Marketing” und “Viral Marketing”.

Sicher ist es purer Zufall (und hat mit “Gruppengütermarketing” oder “Mobile Marketing” direkt nichts zu tun), wenn die Kollegen Manfred Bruhn, Basel, und Christian Homberg, Mannheim, in einem werbenden Begleitschreiben zum neu erschienenen Gabler Marketing Lexikon mahnen: “Vor dem Hintergrund der Schein-Innovationen von Marketingbegriffen ist es für eine gemeinsame Verständigung im wissenschaftlichen Bereich und in der Lehre wichtig, das Marketingvokabular konsistent zu verwenden.”

Kein Trost freilich: 


Das wohlkonturierte Handelsmarketing würde seinerseits durch immer neue 
“Marketingperspektiven” zu einem “Muddling-through-Marketing” verwischt.


 

 

Early Marketing: Vor dem Edeka-Center in Duisburg-Huckingen
am 11.09. eine rechtzeitige Einstimmung auf Halloween (31.10.)



Mit welcher Beliebigkeit Gutachter für "Stadtmarketing" die handelsspezifische Fachsprache heranziehen, zeigen z.B. die (vielen Städten für teures Geld verkauften) "Einzelhandels- und Zentrenkonzepte". Ihr Kernbegriff der jeweils örtlichen "Sortimentsliste" zeigt, wie man Stadtentwickler auf fragwürdige Ideen der Einzelhandelsansiedlung bzw. ihrer Verhinderung bringt. Hier meine kritische Betrachtung

Die "Duisburger Sortimentsliste" und ihre Problematik


Fragen, Anmerkungen oder fachliche Kritik erwarte ich gern unter meiner E-Mail-Adresse h.-o.schenk at t-online.de

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